Das Existenzrecht der Universität


Wann hätte ich jemals sorglos sagen können, dass ich die Universität nicht mehr brauche? Wann hätte ich anfangen können, mit ihr abzu­schließen, wo sie doch lange wesent­lich für mich war. Wann einen Bericht vorlegen, wo doch ein Bericht erst dann präsentiert werden kann, wenn nichts mehr zu ändern ist, und alles auf der Hand liegt?

Wer, von ihr noch unberührt, fragen kann, wozu die heutige Universität gebraucht wird, mag in den Kriterien und Profilierungen der Institute, den Ein­führungs­vorlesungen und Selbst­beschreibungen der Lehrstühle so schlichte wie schlüssige Antworten finden. Für mich waren das jedoch nie hinreichende Gründe. Hatte ich nicht von Roger Willemsens Existenz­recht der Dichtung gelernt, dass sich die Frage nach dem Existenzrecht einer Sache nur dort stellt, wo es bereits infrage steht, wo es nicht länger selbst­verständlich ist? Wären diese Gründe darum nicht geradezu ein Anlass, ihre Belastbarkeit, ja, ihre Legitimität zu prüfen? 
Sicher brauchte ich die Universität nie, wie ich ein Glas Wasser brauche. Meine Antwort darauf, wozu die Universität gebraucht wird, habe ich, als der Student der ich war, jedoch stets auch als Antwort darauf gelesen, wer ich bin. So ist dies mein Bericht von einem Ort, der etwas möglich macht, dass nur dort möglich ist, und das deshalb nur gelingen kann, wenn die Universität gelingt.

Als ich die ostdeutsche Provinz verließ, um mit den Mitteln und Maßstäben, die nur die jugend­liche Unbeschwert­heit garantiert, im wenig größeren Leipzig ein Studium auf­zunehmen, da erschien mir das Leben als Student noch als eine romanhafte Existenz­form, die einen ganzen Kultur­begriff einschloss. Ein knappes Jahr­zehnt ist es her, dass wir auf den marmornen Stufen der Bibliothek Albertina »Bildung nicht Ausbildung« zu unserer Parole erklärten, wenn zu Prüfungszeiten alle Plätze belegt waren, wir aber doch nicht gehen wollten.
In dem Wörtchen »Student« sah ich noch nicht jenen bürokratischen und markt­wirtschaft­lichen Status, dem ich auch damals schon unterstand, sondern eine für diese Gesellschaft wesentliche Aufgabe. Das Studium war für mich schließlich ein Beruf, der sich von den meisten anderen Berufen gerade darin unterschied, dass die Art der Beschäf­tigung unbestimmt und damit grenzenlos war. Der »Wille zum Wissen« war sein Prinzip, konkreter wurde es nur selten. Der pflicht­bewusste Umgang mit diesem Privileg und eine gesunde Ignoranz gegenüber dem Prekariat, das ebenso daraus erwuchs, verstand ich als Grund seiner Existenz, und auch seiner Anerkennung. Ich sah mich wie die Lesenden von Dostojewkijs Schuld und Sühne Raskolnikov sahen: Der Student könnte ein Mörder sein; aber er gelte immer noch etwas – als Student.
Es gehört für mich zum unhinter­geh­baren Glück der damaligen Zeit, dass mir dort mitunter nicht nur die größte pädagogische Hingabe und oft ganz persön­liche Fürsorge zukam, sondern ich auch einen Lehrer fand, der mir sagte, dass das, was ich über meine Rolle als Student dachte, eigentlich für die ganze Universität gelte. Ja, dass es da die Idee einer »Unbedingten Universität« gebe, die nicht nur von ihrer disziplinären Grenzen­­losigkeit und programmatischen Unbe­stimmtheit getragen sein würde, sondern mehr noch von der mich auch heute noch schwerelos machenden Hoffnung, dass sie eines Tages tatsächlich stattfinden könnte.

Voller Mut ging ich so für ein Jahr an die University of Oxford und sah in dem, was zuvor nicht mehr als eine abstrakte Fiktion war, bald eine zum Greifen nahe Realität. Dass ich mich dort mittels eines groß­­zügigen Stipendiums und eines Kredits, den ich bereue, habe einkaufen müssen und somit nach allen Regeln des Kapitalismus für das bezahlte, was ich mir wünschte, war mir damals nicht bewusst. Denn im Gegenzug bekam ich nicht nur eine hierzulande unvorstellbare Aufmerksamkeit. Mir wurde gesagt, was ich in Deutschland in einer solchen Drastik nie wieder gehört habe: Dass ich gleichermaßen zum akademischen wie zum gesell­schaftlichen Diskurs von Grund auf berechtigt wäre, dass meine Stimme überhaupt Gewicht habe, und dass meine Aufgabe als Student deshalb nicht vor allem darin bestehen dürfe, später einmal einen der sogenannten »richtigen« Berufe zu ergreifen, sondern in der unmittel­baren Gegenwart läge. Also gründete ich mit einem guten Freund das Publikationsprojekt PRÄPOSITION und damit einen Ort im Internet, von dem ich noch nicht wusste, wie sehr er in den kommenden Jahren zum einem literarischen Schutzraum dieses speziellen Interesses werden würde.

Auch als dieses Auslandsjahr nur noch eine melancholische Erinnerung war, blieb es doch ein Kontrastmittel für alles, was nun kommen sollte. Eine Rückkehr dorthin konnte und sollte mir, wider allen Lockungen, nicht mehr gelingen. Als ich nach Frankfurt ging, um an der hiesigen Goethe-Universität, die mit ihrer sandsteinernen Miene unzweifelhaft ihren kalifornischen Vorbildern ähnelte, das Anschlussstudium der Politischen Theorie aufzunehmen, da glaubte ich zu wissen, wo ich war. Hatte ich doch soeben begeistert Philipp Felschs Der lange Sommer der Theoriegelesen und damit die Beschreibung eines noch in den 90er Jahren üppigen Bouquets aus allerlei kritischen Theorien, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, dass manche längst welk sein könnten.

Anstelle eines Theoriebrokats, das die heute richtungslose linke Bewegung – der auch ich mich verpflichtet fühle – auf der Straße einte, fand ich mich in über­füllten Seminaren wieder, in denen sich niemand zu sprechen traute, und für die sich niemand verantwortlich fühlte. Nicht das Erkenntnisinteresse des Einzelnen, nicht die Erziehung zur Mündigkeit stand hier im Mittelpunkt, sondern die Kontrolle einer aufrührerischen Masse. So kann ich zwar sagen,dass ich Besuchern des Campus Westend stolz jenen gläsernen Kasten gezeigt habe, in dem die Kopie von Adornos Schreibtisch steht, und sogar einmal auf Horkheimers rotem Sofa gesessen habe, aber darin doch nur die Requisiteneines Theaterstücks sehen musste, das längst nicht mehr aufgeführt wird. Stattdessen habe ich Student:innen kennengelernt, die noch nie eine schrift­liche Kritik auf ihre Arbeit erhalten haben und die, von den universitären Bedingungen ungesehen gemacht, keinen Anlass haben, an sich oder ihre Bedeutung für die Gesellschaft zu glauben. Gleichzeitig habe ich Lehrende erlebt, die ihre Seminare auch dann offengehalten haben, als es keiner mehr tat; auch wenn sie sich so am Semester­ende 3.000 Seiten Text gegenübersahen, die niemand jemals ernsthaft hätte lesen können.

Anstatt die Dialektik der Aufklärung zu studieren, bemühten wir uns in den Seminaren um die Aufklärungunserer studentischen Rolle. Längst sei die Frankfurter Schule zur Marketing­strategie des Präsidiums geworden, die Kritische Theorie ein unternehmerischer Akt ihrer Advokaten, hieß es dann. Das Studium aber ging weiter. Für jene, die den Mut dazu fanden, war es ein Studium gegen die Universität. Daneben nur Kompensation: erst offene Briefe, dann runde Tische, dort lange, aussichtslose Gespräche, Sitzungen, die Menschen aufzehren, und nicht nur jene, die damals mit mir studierten.

Mit Beginn der Pandemie organisierte ich mein Leben mehr und mehr außerhalb der Universität, baute PRÄPOSITION aus, nahm einen Brotjob an, wurde Hilfsbuchhalter. Die Pandemie buchstabierte ich als Hoffnung bewahren. Wenn andere fragten, so sagte ich, ich sei immer noch Student, nur studiere ich nicht mehr. Wenn ich jedoch in den letzten zwei Jahren mit diesen anderen sprach, die mehr auf sie angewiesen sind, als ich es da schon nicht mehr war, wurde die Universität immer vermisst. Das heißt, sofern damit die Seminare, das Gemeinsame, das dort stattgefunden haben musste, gemeint war. Der Lehrkörper, der sie einmal war, wurde zum Leerkörper, der sie nie hatte sein sollen. Und das nicht, weil niemand mehr hinging, sondern weil es Menschen wie mich gab, die, wenn nicht früher schon, dann doch in dieser Zeit, den Glauben an sie verloren.

Anfang des Jahres habe ich dann meine mündliche Abschlussprüfung abgelegt. Ein Raum war dafür nicht aufzutreiben. Eine physische Präsenz nicht vorge­sehen. So verteidigte ich meine Arbeit virtuell und war, so glaube ich, ganz unbeholfen dabei. Was hätte es in dieser letzten halben Stunde, die weniger einen Diskurs als die Exekution einer Regel bedeutete, zu sagen gegeben? Vor wenigen Wochen bekam ich vom Prüfungsamt Zeugnis und Urkunde, gedruckt auf billigem Papier, flüchtig unterschrieben mit Kugelschreiber. Zwischen den Dokumenten die Leistungsnachweise einer anderen, meine vergessen.

Ich hatte immer geglaubt, dass die Würde der Universität, ganz so wie die Würde eines Menschen, letztlich in der Heiligkeit der Form besteht. In der Art und Weise wie wir angesehen, ange­sprochen werden. Wie und als was sich dieser Ort uns gegenüber ausdrückt.
Immer wieder gab es jene, die zu mir sagten, ich wüsste nicht, wovon ich spräche, weil ich das System in seiner Komplexität nicht erfassen könnte, schon gar nicht als Student. Während sie gleichzeitig die strukturelle Macht­losigkeit, die meine Rolle bedeutete, anzuerkennen glaubten. Was aber ist das für eine Anerkennung, die in der Betroffenen nur eine Betroffene, nicht aber eine Sprechende sieht und alle Abhängig­keiten perpetuiert?

Kürzlich hatte mir ein Freund ein Buch zurückgegeben, von dem ich nicht mehr wusste, dass ich es einmal besessen hatte. Es heißt Höhlenausgänge und stammt von Hans Blumenberg, der darin die prominenteste und doch am meisten missverstandene Metapher der west­lichen Philosophiegeschichte beschreibt, Platons »Höhlengleichnis«. Immer hätte man dieses als Geschichte von Menschen gelesen, die, gefangen in der Höhle, nichts als Schatten und damit nur den ­Abdruck der äußeren Welt sehen könnten und sich darum, unbedingt, befreien müssten. Aber war diese Höhle nicht auch ein Schutzraum, ihre ewigen Wände eine Stütze, für die es außerhalb keinerlei Ersatz gäbe? Blumenberg hat nie einen Hehl aus seiner Ablehnung für die wachsende Bürokratisierung der Universität gemacht, und hat sie als Höhle doch behalten.

Das ist die Unvereinbarkeit, der sich eine jede Antwort stellen muss, die das Existenz­recht der Universität betrifft und die sich in jedem Studenten, in jeder Studentin spiegelt, die nach ihm fragt. Und ehrlich gesagt, eine bessere Antwort kenne ich nicht und glaube ich auch nicht mehr zu finden. Das Glück, das mir die Universität bedeutet hat und, in besseren Momenten immer noch bedeutet, ist nur dort aufgehoben, das heißt: ausgesetzt und bewahrt. Oder wie Thomas Brasch schreibt: »Was ich habe, will ich nicht verlieren / aber wo ich bin, will ich nicht bleiben (...) bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.« Dazu brauche ich die Universität.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Mai 2022